Narragonia


ISBN 9783874485890
136 Seiten, Gebunden/Hardcover
CHF 32.95
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Narragonia

Im August 2022 schrieb mir Bert Gerresheim aus Düsseldorf unter dem Absender Rheinstrom Kilometer 744: arbeite jetzt an einer bildfolge narragonia - es ist ein schlagwort, das ich Sebastian Brant verdanke.

Ad Narragoniam - nach Narragonien, ins Narrenland - dieses Buch des elsässischen Juristen und Theologen Sebastian Brant (1457-1521) erschien auch auf deutsch: Das Narren Schyff (Gedruckt zu Basel vff die Vasenacht 1494). Paarige Knittelverse, 111 einzelne Gestalten, menschliche Tor- und Narrheiten aller Art darstellend, der Narr im Mittelpunkt, Holzschnittillustrationen (viele vom jungen Albrecht Dürer), Begründung der zahllosen Varianten der nachfolgenden Narrenliteratur, viele Neuauflagen und Nachahmungen, etwa Das Lob der Torheit des Erasmus von Rotterdam, 1511, Wahrheit durch Lügen. Brants Buch zündete bei der Leserschaft, es zündete auch bei Bert Gerresheim, der sich in seinem Werk schon seit langem mit solchen gewitzten Randfiguren beschäftigt hat.

Er schuf ein Konvolut von am Ende 60 Bleistiftzeichnungen, die sich um das Thema Narrheit drehen, gezeichnet, gekritzelt, konturiert, schattiert, frottiert (durchgerieben), kurz: zu Papier gebracht mit einer lebendigen Zeichenkunst, in der sich Bert Gerresheim von früh an geübt hat und die er nun meisterlich beherrscht. Gegenständliche, figürliche Motive, die ins Surreale übergehen, Augenlust und Denkanstöße für die Betrachter. Bert Gerresheim übergeht freilich die moralischen und belehrenden Intentionen, die Brant in seiner vorred in das narrenschyff als Aufgabe seines Buches beschreibt.

Das Narrenland ist ein riesiges Land, kein enges Robinson-Eiland, sondern ein Kontinent, und wir bevölkern ihn, wir sind die närrischen Eingeborenen. Das wird uns mit Gerresheims Blättern in vielfältigen Einkleidungen und oft grotesken Maskierungen gezeigt.

Gerresheim ist Düsseldorfer, lebt am Rheinstrom, kennt und liebt den Karneval und seine Gestalten, zumal den Tyl Eulenspiegel in der Regionalversion des Hoppeditz, dem er 2008 ein über drei Meter hohes Vexiermonument aus Bronze gesetzt hat; es ist, passemd zur Mahnung von Sebastian Brants Satiere, auf dem Marktplatz hinter dem Düsseldorfer Rathaus aufgestellt - ein Werk voller ironischer Anspielungen; es macht zwar Mühe, sie zu entdecken und zu entschlüsseln, aber es wird zum Vergnügen, wenn man den Hinweisen von Uta Husmeier-Schirlitz folgt, im Katalog der Hommage zum 80. Geburtstag von Bert Gerresheim, Clemens Sels Museum Neuss, 2015. Das Narrendenkmal neben dem Rathaus - man fühlt sich Sebastian Brant nah.

Der Narragonia Bilderzyklus besteht aus zwei Gruppen von Vexierbildern: Narragoniawiedergänger und Narragoniagelichter.

In der ersten Bildfolge Narragoniawiedergänger handelt es sich um Vexierporträts von historischen Narrenpersönlichkeiten, die ihre Narrheit lebten und von Philosophen, die das Lob der Torheit zu vertreten wussten. Diese Männer in Bert Gerresheims persönlicher Auswahl, sie sind die Stars in seiner Narrenwalhalla. Die Narrenmaske erscheint als pars pro toto - als Zeichen einer verlarvten, mehrdeutigen Lebenswirklichkeit. Vielleicht sind die Narragonia-Vexierbilder so etwas wie ein Protokoll der fortschreitenden Vernarrung der Welt. -

In der zweiten Bildfolge Narragoniagelichter herrscht surreale Freiheit: der dichte vorhang der wirklichkeit und die bilder hinter dem vorhang machen Rösselsprünge auf dem Brett von René Magritte. Das Skelett des auf Geige fiedelnden Knochenmanns zitiert den Tod aus Alfred Rethels Holzschnitten auf die Revolution von 1848 und spielt zugleich auf Arnold Böcklins Selbstbildnis mit dem fiedelnden Tod an - Gerresheims Bilderwelt ist nicht eng, in ihr gibt es Zusammenhänge und Kurzschlüsse, die über das jeweils gegebene Bildmotiv hinausreichen.

Bert Gerresheim erläutert: im Narragoniagelichter handelt es sich um eine bilderfolge, die versucht, die vernarrung unserer vieldeutig suchbildhaften erlebniswirklichkeit vexierend zu protokollieren. Vexierend, das heißt unter Einbeziehung von bei der Arbeit automatisch auftauchenden Assoziationen aller Art, am Werk ist hier reiner psychischer Automatismus - Denkdiktat ohne Vernunftskontrolle, so wie André Breton im Ersten surrealistischen Manifest von 1924 die Vorgehensweise des Künstlers charakterisiert. Gerresheim sagt es packender: Werfen wir das bisschen Hirn mit seinen berechnenden Klugheitsfetzen über Bord und bleiben wir auf dem Spielfeld von Realität, Vision und wunder, diesseits und jenseits der Tür, welche die äußere und innere Erlebniswelt zu trennen scheint. -

© Karlheinz Nowald
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