Johannes Seluner. Findling


ISBN 9783034013406
184 Seiten, Gebunden/Hardcover
CHF 28.80
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Ein Mensch ohne Namen und ohne Herkunft, das verleitet zum Fantasieren, man stelle sich vor: Plötzlich ist einer da, niemand weiss, wie er heisst. Er scheint keine Vergangenheit zu haben, keine Identität, kann weder schreiben noch sprechen und versteht keine der Fragen, die man ihm stellt.

Ein solcher Mensch ist im September 1844 auf Alp Selun im oberen Toggenburg aufgetaucht. Er war vielleicht sechzehnjährig, fast nackt, stumm. Aus einigen Gebärden wollte man schliessen, dass er der katholischen Religion angehörte. Weil sich trotz steckbrieflicher Ausschreibung der Polizei keine Angehörigen meldeten, wurde er ins Armenhaus gesteckt. Seinen Namen erhielt er vom Fundort, dem Selun, einem der Churfirsten, und dem Schutzpatron der Gemeinde Alt St. Johann.

Von diesem Johannes Seluner und den Geschichten um seine Person erzählt Rea Brändle in ihrem Buch. Sie tut es aus verschiedenen Perspektiven: Für die Behörden war Johannes Seluner ein Kostenfaktor, den man so schnell wie möglich loswerden wollte. Für die Bevölkerung war er ein billiges Vergnügen, ein Zeitvertreib, ein gefundenes Fressen für mündliche Fantasterei; auch eine Reihe schriftlicher Fiktionen ist im Lauf der Jahre entstanden. Von der Wissenschaft schliesslich wurde Johannes Seluner posthum als Forschungsobjekt betrachtet, als nützlicher Idiot im wörtlichen Sinn; die Untersuchung seiner Knochen gehörte in das Umfeld einer Zürcher Anthropologie, die in vielem der Eugenik verpflichtet war.

Johannes Seluners Geschichte führt mitten in brisante Themen: Ausgrenzung des Fremden, Umgang mit Heimatlosen, Installierung von Armenhäuser und anderer Disziplinierungsanstalten, Aktivitäten von Eugenikern.

Seit der weithin beachteten und längst vergriffenen Erstausgabe von 1990 hat Rea Brändle zusätzliches Material über den geheimnisvollen Johannes Seluner gesammelt und in einer stark erweiterten Neuausgabe verarbeitet. Ausserdem bezieht sie Themen aus der aktuellen Rezeption des Toggenburger Findlings ein: Verwertung, Scham und Wiedergutmachungsversuche.
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