Immer ein bisschen revolutionär


ISBN 9783866280250
162 Seiten, Taschenbuch/Paperback
CHF 24.10
BOD folgt in ca. einer Woche
Aus dem Vorwort von Irene Gill:



Olga Hempel
Eine lebendige Stimme aus der Vergangenheit

Meine Großmutter Olga Hempel (geb. Fajans, 1869-1954) - allgemein Frau Doktor genannt - war klein, rundlich und trug schwarz. Von der Seite sah sie wie ein großes B aus. Ihr silbernes Haar war in einen kleinen Dutt oben auf ihrem Kopf zusammengerafft. Sie hatte große, intelligente grau-blaue Augen, die mich aufmerksam über ihre Brille anschauten. Sie stand auf dem kleinen Hügel und schwang ihren Regenschirm im Kreis über die grüne Landschaft und sang in einer tiefen, warmen Stimme:



O Täler weit, o Höhen

Du schöner, grüner Wald

Du meiner Lust und Wehen

Andächt´ger Aufenthalt.

Später machte sie mich auf eine Lerche aufmerksam, die singend im Kreise aufwärts flog. "Wenn du dich dreimal umdrehst", sagte sie, "wirst du sie nicht mehr sehen können - nur hören, so weit fliegt sie hinauf!" Ich drehte mich gehorsam um, und siehe da: Sie hatte recht! Es war mir klar, dass meine Großmutter allwissend war.

Sie hatte ihre Riten. Jeden Abend mussten wir Stuhl, Tischchen, Decke, Bücher, Schreibsachen und Lesebrille an eine freie Stelle an der Hecke hinter dem Häuschen tragen. Da ließ sie sich dann nieder, um den Sonnenuntergang zu sehen, - falls es langweilig wurde, konnte sie lesen oder Briefe schreiben. Sie hatte immer etwas zu schreiben.

Das war wohl im Jahre 1938 in Dänemark, als ich etwa fünf Jahre alt war. Wir waren wegen Hitler schon 1936 aus Deutschland ausgewandert. Davor hatten wir - meine Mutter, meine älteren Geschwister und ich - bei Großmutter Olga in Güntersthal bei Freiburg gewohnt. Dort bin ich geboren; Oma spielte in den ersten drei Jahren meines Lebens eine ebenso große Rolle wie meine Mutter. Mein Vater war abwesend.

Nach dem Besuch bei uns in Dänemark fuhr sie nach Persien. Wir gelangten 1939 nach England, und während des Krieges bekamen wir Briefe und Pakete von Oma Olga. Erst nach dem Krieg sah ich sie wieder: Sie besuchte uns auf ihrer Reise nach Amerika. Danach sah ich sie nie wieder. Aber dank ihrer vielen Briefe (ich habe einen Schuhkarton voller Briefe, auch solche, die sie in den 1920er Jahren an meine Mutter schrieb) und der drei schwarzen Hefte, in denen sie ihre Lebenserinnerungen aufschrieb (und auch dank der Erzählungen meiner Mutter) kenne ich sie, ihr Leben, ihre Umgebung, ihre Anschauungen und ihre ganze Persönlichkeit sehr gut.

Sie hatte einen erstaunlichen Mut. Sie setzte sich durch; sie studierte Medizin.
ZUM ANFANG