Goda Plaum


ISBN 9783964160423
80 Seiten, Taschenbuch/Paperback
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Its night time in the big city. Die Bilder der Goda Plaum



Es ist Nacht in der großen Stadt. Die Lichter der Häuser und Ampeln glitzern auf dem nassen Asphalt. Die Rucklichter der Autos irren durch die Hitze der Nacht. Goda Plaum ist Malerin. Sie ist Kunstpädagogin und promovierte Bildwissenschaftlerin.



Ihre Bilder sind keine Portraits von Straßenszenen oder Landschaften, sondern durch mehrere Phasen reflexiver Brechungen hindurch gegangen, bevor sie zu Gemälden wurden, nämlich durch die Medien der Fotografie und der Skizze. Die nächtliche Szenerie, die sich der Kunstlerin in ihren Spaziergängen mit allen Sinnen gleichzeitig in räumlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht darbot, wurde am 19.7.2018 - kurz nach Mitternacht - mit einer Canon EOS 70D Spiegelreflexkamera in verschiedenen Aufnahmen im Medium der digitalen Farbfotografie fixiert. Insgesamt sind in dieser Nacht 60 Aufnahmen entstanden. Durch den Akt des Fotografierens wird die simultane, sich stets verändernde Dynamik von Raum, Zeit und Sinneseindrucken stillgestellt und in einen Moment kondensiert. Das dynamische Fließen der umgebenden optischen Anordnung wird wie in einem Präparat eingefroren und von den restlichen Sinnen isoliert. Die Fotografie ist eine Sichtbarkeits-Isolierungsmaschine. Im wahrsten Sinne des Wortes wurde die Szene zu einem Still. Wie in einem zoologischen Präparat re-präsentieren sich in der Aufnahme gefrorene Zeit, gefrorener Raum und isolierter Blick. Die digitale Farbfotografie bildet die erste, fundamentale Übersetzung der Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit in das Medium des Bildes.



Nur wenige der vielen Fotografien genugen fur den nächsten Schritt. Von der nächtlichen Aufnahme ausgehend, fertigt Plaum zunächst eine kleine Acrylskizze in dem quadratischem Format 20 × 20 cm an (siehe S. 11). In diesem zweiten und entscheidenden Übersetzungsschritt, der von der digitalen Fotografie in das Medium der Malerei erfolgt, wird das Dargestellte erneut kondensiert und transformiert. Die diskontinuierliche Materialität der digitalen Fotografie wird vollständig durch das kontinuierliche, analoge Medium von Papier, Pigment und Bindemittel substituiert. Das Seitenverhältnis 6 × 9 wird in der Horizontalen gestaucht und flächig verdichtet. Die Vertikale gewinnt dadurch an Bedeutung. In dem schließlich ausgefuhrten Gemälde im Format 100 × 100 cm trägt die Kunstlerin Farben in einem freischwebenden, flächigen Auftrag mit punktuellen Setzungen auf (siehe S. 11 & 29). Sie gibt der Farbe den Vorrang vor der Form. Dies ist eine bewusste gestalterische Entscheidung, welche später die Konstruktion des ästhetischen Gegenstandes durch den Betrachter beeinflussen wird. Erst der Betrachter erzeugt in seiner emotional-kognitiven Wahrnehmungssynthese einheitliche Formen und Objekte. Er transformiert mithilfe der autochthonen Kraft seiner Gestaltwahrnehmung die frei schwebenden, flirrenden Farbflächen in ein einheitliches und kohärentes Panorama der gemalten Szenerie. Die Räumlichkeit des dargestellten Bildes entsteht also erst in den biologisch-chemischen und mentalen Prozessen des Betrachters. Dasselbe geschieht mit der Konstruktion von Zeit. Denn die Nachtbilder suggerieren eine enorme zeitliche Ausdehnung. Nicht nur, dass der ästhetische Wahrnehmungsvorgang selbst in der Zeit stattfindet und Zeit benötigt, um zu einer gestaltvollen Wahrnehmungssynthese zu gelangen. Vielmehr konstruiert der Betrachter in seinem ästhetischen Erleben nicht nur ein einheitliches, räumliches Bild, sondern ebenso eine einheitliche, zeitliche Sequenz. Der dargestellte Moment wird, indem er im emotional-kognitiven System des Betrachters synthetisiert wird, in ein Kontinuum des Kurz-Davor und des Gleich-Danach ausgedehnt, das durch die optische Anordnung der farbig strukturierten Oberfläche des Bildes suggeriert wird. Damit wird das Bild in einen, wie Husserl sagen wurde, retentionalen und protentionalen Horizont aus Erinnerungen und Erwartungen eingebettet, die sich im Hier und Jetzt der ästhetischen Wahrnehmung mit der Gegenwart der Darstellung verspannen.



Dasselbe Prinzip gilt fur die Serie der Seestucke von 2012 (siehe S. 54-57). Auch hier hat die Kunstlerin mithilfe von digitalen Fotografien, die mit einer kleinen Canon PowerShot A1200 aufgenommen wurden, die sich ständig verändernden Reflexe der Wellen an der Wasseroberfläche in statische Muster ubersetzt. Sie hat dabei eine fotografische Phänomenologie von ruhiger Wasseroberfläche, leichter Wellenbewegung bis hin zu starkem Wellengang erstellt (siehe S. 13). In einem zweiten Schritt wurden einige dieser Fotografien ausgewählt und in kleine Acrylskizzen ubersetzt, die eine erste malerische Formulierung der Wellenoberflächen darstellen. Ergänzend dazu sind weitere Skizzen direkt vor Ort am Seeufer entstanden, die dann ihre weitere Ausfuhrung in den beiden Gemälden Wasser 1 und Wasser 2 aus dem Jahre 2016 finden (siehe S. 15).



Mithilfe fotografischer Schnappschusse, die am Strand entstanden sind, hat sie verschiedene typische Badesituationen festgehalten - planschende Kinder, eine Frau auf der Luftmatratze, einen älteren Herrn, der bis zu den Knien im Wasser steht. Insgesamt sind 157 fotografische Studien entstanden. Einige Figuren wurden fur die Seestucke aus ihrem fotografischen Umfeld isoliert und in eine abstrakte, beruhigte Wasseroberfläche eingesetzt. Auf diese Weise fuhrt die kunstliche Synthese zweier grundlegend verschiedener Bildsysteme sowohl zu einer Abstraktion als auch zu einer Konzentration des Dargestellten. Das Verhältnis des gemalten Körpers steht in seiner cremig orangenen Farbigkeit komplementär zu der fast monochromen Wasserfläche. Die Darstellung erscheint wie mit einem Teleobjektiv aus der Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit herausgeschnitten. Das framing ist aber auf eine ganz bewusste Art und Weise konstruiert. Es existiert so nicht in der Realität des Badeurlaubes, sondern nur in der Realität des Bildes. Eine isolierte Figur ist in ein unendlich abstraktes, hellblaues Umfeld eingebettet. Es isoliert die Person vom Rest der Welt. Es stellt sie frei. Die Bewegung der Badenden und die Dynamik der Wellen werden auf Dauer gestellt. Sie wirken wie fur die Ewigkeit eingefroren.



Diese spezifische Kondensationstechnik fuhrt zu einer anderen Gruppe von Werken, den so genannten Bildobjekten. In ihnen verwendet Goda Plaum verschiedenfarbige Realien wie farbiges Papier, farbigen Karton, Plastiktuten oder farbige Textilstucke, die sie sammelt, zuschneidet, collagiert und anordnet, so dass der Eindruck einer räumlichen Situation und eines fast abstrakten Gemäldes entsteht.



Im Werk von Goda Plaum lassen sich zwei verschiedene methodische Ansätze beobachten. Der eine ist der virtuose Umgang mit Farbe im Medium der Acrylmalerei, der zweite ist das Arbeiten mit vorgefundenen Materialien wie farbigem Papier oder bedruckten Stoffen. Jenseits dieser beiden Methoden gibt es jedoch noch eine andere, verdeckte Thematik, die ihre kunstlerische mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit verbindet und amalgamiert. Erst in diesem Underground treffen wir auf die entscheidende Erkenntnisleistung der Kunstler-Wissenschaftlerin. Die durchgehende Fragestellung lautet: Wie fasst das emotional-kognitive System eines Betrachters die verschiedenen flächigen oder abstrakten Anordnungen von Farben und Formen syntaktisch und semantisch auf, und wie integriert es diese fragmentarischen Hinweise der umgebenden optischen Anordnung in ein einheitliches räumliches und zeitliches Gesamtbild? Im Prinzip geht es in den Werken der Kunstlerin um Fragen der Wahrnehmung, der Gestaltbildung und der Aktualgenese von Bildern.



Wenn man sich dieses kunstlerisch-wissenschaftliche Forschungsprojekt genauer ansieht, stellt man fest, dass es im Endeffekt um die Fragestellung geht, wie Bilder von Betrachtern gesehen werden, was im Prozess des Sehens passiert, und wie aus den fragmentarischen Hinweisen wie Farben, Flecken, Linien und Punkten ein einheitlich integriertes, räumlich un...
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