Der Autor hat in einer Vielzahl von Büchern die Rolle der Entwicklungspsychologie für die Geistes- und Sozialwissenschaften
und für die Rekonstruktion der Kultur- und Menschheitsgeschichte dargelegt. Ausgangspunkt seiner Betrachtungen ist das Verhältnis von Subjekt und Objekt, Mensch und Gesellschaft, Psyche und System im sozialen Wandel und in der Kulturgeschichte. K. Marx hat versucht, das Verhältnis von Sein und Bewusstsein als Grundlage geschichtlicher Entwicklung zu bestimmen; M. Weber entsprechend das Verhältnis von Institutionen und Ideen. A. Comte und N. Elias nahmen an, Menschen früherer Gesellschaften seien durch eine kindliche Psyche charakterisiert, während sich erst im Laufe der jüngeren Vergangenheit elaboriertere psychisch-kognitive Strukturen
Comte und Elias ihre Soziologien auf einer Simultanbetrachtung
psychogenetischer und soziogenetischer Entwicklungen. Sie zeigten, dass man die vormodernen Gesellschaften nicht ohne Berücksichtigung der kindnahen
Psychen und Denkweisen der Menschen verstehen kann. Ferner interpretierten sie die sozialen Transformationen,
die die Entstehung der Industriemoderne bedingt haben, im Lichte einer geistigen Reifung der Menschheit. Sie haben auf diese Weise anschaulich und grundlegend gezeigt, was man denn konkret unter einer 'Dialektik von Sein und Bewusstsein' verstehen kann und wie sich diese realhistorisch ausprägt. Während Marx und Weber 'Bewusstsein' eigentlich nur auf der Folie von Ideen konzipieren konnten, und auch dies nur bruchstückhaft,
zeigten der Gründervater der Soziologie, Auguste Comte, und der letzte Klassiker der Soziologie, Norbert Elias, dass man dann sowohl den Schlüssel zum Verständnis
von 'Bewusstsein' als auch den zur Rolle der 'Dialektik von Sein und Bewusstsein' - und damit zum Verständnis der Kulturgeschichte - gefunden hat, wenn man die Entwicklungspsychologie als Erklärungsmodell des psychisch-kognitiven Wandels der Menschheit nutzt. Man kann die Entwicklung des 'Seins', der sozialen Wandlungen und der Kulturgeschichte der Menschheit nur dann angemessen und grundlegend erklären, wenn man die materiellen und sozialökonomischen Transformationen
im Lichte der psychisch-kognitiven Reifung der Menschheit analysiert.
Die Klassiker der Entwicklungspsychologie haben immer wieder auf die bis in die Details gehenden Übereinstimmungen
zwischen Kindern und vormodernen Menschen hingewiesen. Die Feldforschungen der kulturvergleichenden
Psychologie, die am Leitfaden der Theorie Jean Piagets in zahllosen Kulturen in den letzten 80 Jahren durchgeführt wurden, haben dann empirisch bestätigt, dass die adoleszente Persönlichkeitsstufe und das konkomitante formal-operationale Denken im Wesentlichen
ein Privileg von Bevölkerungen moderner Industriegesellschaften ist, während vormoderne Bevölkerungen
dem kindlichen Entwicklungsniveau verhaftet bleiben. Erwachsene vormoderner Kulturen unterscheiden
sich von Kindern durch ihre Lebenserfahrung, aber nicht durch ihre kognitiven Strukturen.
Das erste Kapitel des Buches liefert einen Überblick über diese empirischen Forschungen und erläutert sie im Lichte einer sie erklärenden Theorie. Die Entwicklung der adoleszenten Persönlichkeitsstufe und des formal-operationalen Denkens resultiert aus den Anreiz- und Zwangswirkungen moderner Sozialisationseinflüsse, insbesondere Bildungsinstitutionen, während das Ausbleiben
dieser Strukturen in vormodernen Kulturen vor allem sozialisationstheoretisch zu erklären ist. Der Einfluss der Kultur auf die Humanentwicklung ist demzufolge
viel größer als bislang angenommen wurde.
Das zweite Kapitel zeigt, dass man die größte sozialökonomische
Revolution der Menschheitsgeschichte, die Entstehung der Industriemoderne, nicht ohne ihre größte anthropologische Transformation - eben die Entwicklung
des formaloperationalen Denkens begreifen kann. Der relevante Unterschied zwischen der europäischen